Die folgende Rede hielt Odilo Noti, Präsident Swissfundraising, am Geburtstagsfest der Corris AG.
Geschätzte Gäste
Wie Sie bin auch ich hier. Ich bin hier, nicht weil die Firma Corris in ihrer Einladung keine Ausrede akzeptiert. Ich bin hier aus freien Stücken, weil ich eingeladen worden bin, als Präsident von Swissfundraising ein paar Worte zu formulieren. Und um meine Bindungen an dieser Stelle völlig offen zu legen: Ich bin auch hier, weil die Caritas ein Kunde von Corris ist. Wir sind überzeugt von dieser Zusammenarbeit. Deshalb pflegen wir mit Corris einen offenen, öffentlichen Umgang, nicht verschämt und heimlich, als ob wir in der Abenddämmerung oder nachts eine illegitime Geliebte besuchen würden.
Die unorthodoxe, aber stimmige Festeinladung von Corris hat mich an eine andere, ähnliche Einladung, an ein Stück Weltliteratur erinnert. Da schickt ein wohlhabender Mann seinen Knecht hin, um Gäste zu einem grossen Gastmahl einzuladen. Doch keiner der eingeladenen Gäste hat Zeit. Sie bringen andere Gründe vor, als sie Corris gewohnt ist. Sie sagen nicht: Sorry, ich bin pleite; ich bin im Stress; ich spende schon; ich habe einen Termin, oder ich muss auf den Zug. Dennoch kommt keiner zum Fest. Der eine muss seinen Acker bestellen, den er gerade gekauft hat. Der zweite muss auf dem Markt ein paar Ochsen beschaffen, und der Dritte hat gerade geheiratet, er will in die Flitterwochen. Als der Gastgeber vernimmt, dass jeder seiner Gäste eine Ausrede hat und nicht kommt, wird er wütend. Er schickt seinen Knecht noch einmal hinaus, um alle Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden einzusammeln. So wird das Haus voll und das Festmahl findet statt.
Heute Abend ist auch dieses Haus voll, und das Fest von Corris findet statt – unabhängig von den Ausreden, die Einzelne der Eingeladenen geäussert haben mögen. Damit enden aber die Parallelen zur Geschichte, insbesondere was die soziale Schichtung der hier anwesenden Gäste betrifft. Ach ja, die Geschichte, die ich Ihnen in geraffter Form erzählt habe, steht übrigens in der Bibel, im Matthäusevangelium.
Ich möchte nun aber keineswegs den Eindruck erwecken, die Existenz von Corris bereits in der Bibel nachweisen, mithin das Geschäftsmodell der Firma also biblisch verankern und heiligen zu wollen. Auch ist, wie ich gerne gestehe, der Vergleich der beiden Einladungen nicht ganz fair. In der biblischen Geschichte geht es um grundlegende Entscheidungen, um Optionen, von denen abhängt, ob ich mein Leben gewinne oder verfehle.
Die Welt von Corris ist doch etwas alltäglicher. Es geht aber auch da nicht bloss um Ausreden. In der Nähe eines Bahnhofs, wo sich die Standplätze von Corris meist befinden, da muss halt der eine oder die andere auf den Zug. Was gibt es denn sonst für Gründe, sich auf einem Bahnhof aufzuhalten. Laut der Caritas ist jede zehnte Person in der Schweiz arm, da ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass ein Corris-Mann oder eine Corris-Frau auf jemanden trifft, der wirklich pleite ist.
Natürlich gibt es die Ausreden. Oft würde ich sie aber eher als Notlügen bezeichnen. Not-Lügen, so sagt es die Bezeichnung, sind aus der Not geboren, weil ich mich unter Druck gesetzt fühle. Das behagt mir nicht. Ich möchte lieber souverän in aller Freiheit entscheiden, ob ich spende oder nicht spende, ob ich das Mailing öffne oder ungeöffnet wegwerfe.
Die Freiheit erst macht den Menschen zu einem moralischen Wesen, sagt uns die abendländische Philosophiegeschichte. Der Mensch handelt moralisch, weil er ein freies Wesen ist. Du sollst, denn du kannst, lautet der entsprechende Aufruf. Das heisst aber auch: Unter Zwang gibt es kein moralisches Handeln.
Es gibt Fundraiser, ich nenne sie versuchsweise einmal die Fundraising-Naturalisten, die sich unentwegt für die biochemischen Prozesse interessieren, die während des Spendens ablaufen, und die uns sogar mittels Duftnoten in den Mailings zum Spenden verführen wollen. Im Gegensatz zu diesen Biochemikern halte ich das Spenden für einen Ausdruck der Moralität, für einen moralischen Akt, einen Ausdruck der Sympathie und der Empathie, der Solidarität und des Wunsches nach grösserer Gerechtigkeit. Als moralischer Akt aber muss das Spenden in Freiheit geschehen, ohne jeden Zwang.
Der Mensch kann moralisch handeln, weil er ein freies Wesen ist. Er könnte auch ganz anders. Darin steckt zugleich ein Kernproblem der Ethik und der Moral: Die Menschen wollen, nur allzu oft, aus freiem Willen, das moralisch Gebotene gerade nicht tun. Sie können, aber sie wollen nicht. Wir könnten auch pessimistisch hinzufügen: Moralisches Handeln ist nur für wenige, nur für sittliche Heroen, für Übermenschen also. Allen anderen muss mit Zwang nachgeholfen werden, das Richtige zu tun, damit Moral, Recht und Ordnung nicht den Bach runtergehen. Dieser philosophische Konsens reicht von Baruch Spinoza bis Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Moralisches Handeln aus Freiheit sei die Sache von wenigen. Das so genannte gemeine Volk müsse mit Mitteln des Zwanges zur Raison gebracht werden. In der Religion sahen sie ein probates Mittel dafür. Sie leitet die Masse der Menschen zum richtigen Handeln an, aufgrund ihrer Verheissungen des ewigen Heils und, noch viel nachdrücklicher, aufgrund ihrer Drohungen mit ewiger Verdammnis. Obwohl ich ein ganz anderes Verständnis von Religion habe, ist mir die Instrumentalisierung von Religion doch noch lieber als der Einsatz der Polizei. Jede noch so instrumentalisierte Religion behält einen utopischen Überschuss, eine Ahnung dessen, was gelungenes Leben sein könnte. Wo nur noch die Polizei zum Einsatz gebracht wird, ist dieser utopische Überschuss verloren gegangen.
Nach diesem philosophisch-religionshistorischen Höhenflug zurück zu uns Fundraisern und zu unserer Jubilarin, der Firma Corris. Auch wir Fundraiser, die Jubilarin eingeschlossen, sind eine Art Disziplinierungsmittel, damit die grosse Masse trotz allem das Richtige tut.
Uns wäre es ja schon recht, gegen unsere eigenen Interessen sogar, die Menschen würden von sich aus spenden, aus freiem Willen oder zumindest aus Einsicht in die Notwendigkeit, ohne unser Dazutun. Leider tut dies nur eine Minderheit. Darum gibt es die Techniken des Fundraising, die Methoden des sanften Zwanges und der diskreten Verführung. Denn die wenigsten Menschen sind derart sittliche Heroen, dass sie aus freiem willen spenden, jederzeit, immer wieder.
So sind wir Fundraisier und Corris ein Symbol für den unvollkommenen Spender, der zwar kann und darum sollte, der jedoch nicht will. – Im Mittelalter hätten übrigens die Gelehrten darüber debattiert, ob es im Paradies wohl noch eine Corris gäbe oder bräuchte. Die Antwort darauf verkneife ich mir. Es gibt Fragen, die man zwar stellen kann, aber aber nicht beantworten sollte.
Hienieden zumindest braucht es die Corris, so wie es auch uns Fundraiser braucht. Weil diejenigen, die können und darum sollten, nicht wollen. Corris muss sich aber im Klaren sein, dass nicht alle können. Es gibt nicht nur die Ausreden. Es gibt auch die Not-Lügen und die banalen Wahrheiten. Es können eben nicht alle. – Konzentriert euch statt dessen auf jene, die können, aber nicht wollen. Das sind immer noch sehr viele, viel zu viele. Helft diesen unvollkommenen Wesen nach!
Ich gratuliere zum Jubiläum.