Der Journalist Konrad Staehelin hat kurz vor Weihnachten Dialoger*innen an ihrem Standplatz besucht, ausgewählte Partnerorganisationen interviewt und in Zürich ein Gespräch mit unserem Geschäftsleiter Baldwin Bakker geführt. Lesen Sie hier den Artikel aus der Sonntagszeitung.
«Haben Sie kurz Zeit?», «Hey, wie gehts?», «Du weisst sicher schon, warum ich dich anspreche»: Eine Person nur schon zum Stehenbleiben zu bewegen, die auf den Zug muss oder in den nächsten Laden will, ist eine Kunst. Zumal diese meist tatsächlich schon weiss, warum sie angehauen wird: Sie soll Geld spenden.
Geld für Brunnen in Südostasien oder Afrika, für den Schutz des Regenwaldes, für die Unterstützung von jungen Menschen oder solchen mit Behinderungen in der Schweiz oder für öffentlichen Druck zugunsten politischer Gefangener am anderen Ende der Welt. Wer regelmässig zu Fuss in Schweizer Städten unterwegs ist, kennt die Kampagnen und das Vorgehen der Spendensammlerinnen und -sammler.
Sie stehen mit ihrem aufklappbaren Stand und in Kleidung der Non-Profit-Organisation (NPO), die sie vertreten, in den Fussgängerzonen oder an Bahnhöfen. Von den allermeisten Passantinnen und Passanten erhalten sie eine Absage, mal freundlich, mal weniger.
«Es ist ein Knochenjob und teilweise frustrierend. Ich frage täglich Hunderte Leute an, von denen mir nur ein Bruchteil überhaupt erst zuhört», sagt Sandra, die eigentlich anders heisst. «Vor Weihnachten ist es noch schwieriger als sonst, weil die Konkurrenz durch Briefaktionen so viel grösser ist.»
«Diese Arbeit ist nicht für alle geeignet. Man muss mit Rückweisungen umgehen können und den ganzen Tag bei Wind und Wetter draussen stehen.»
Baldwin Bakker, Corris-Geschäftsführer
Sandra ist Anfang 20 und arbeitet im Teilzeitpensum als Spendensammlerin. Die offizielle Berufsbezeichnung ist Dialogerin. Wir treffen Sandra auf der Zürcher Bahnhofsbrücke, wo sie an jenem Tag für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Leute anspricht. Die Atemschutzmaske hat sie wie alle ihre Kolleginnen und Kollegen korrekt angezogen, der Ton ist freundlich.
Wenn es Sandra gelingt, Leute von Amnesty zu überzeugen, füllen diese auf dem iPad, das sie ihnen hinhält, ein Formular aus, das sie zu regelmässigen Spendern macht: Dann wird regelmässig ein fixer Betrag per Lastschriftverfahren vom Konto abgebucht. Möglich ist es auch, einen einmaligen Betrag zu spenden. Das ist Sandra aber deutlich weniger lieb.
Angestellt ist Sandra nicht bei Amnesty, sondern bei der Firma Corris AG. Seit 26 Jahren organisiert diese für Hilfswerke das Spendensammeln auf der Strasse. Aktuell tut sie das für 35 NPO und ist damit mit grossem Abstand Marktführerin in der Schweiz. Zu den grössten Hilfswerken, die sie vertritt, zählen neben Amnesty der WWF (Naturschutz), Helvetas (Entwicklungshilfe), das Rote Kreuz (medizinische Hilfe) oder Unicef (Kinderhilfe).
Im Schnitt nehmen sie ein Drittel ihrer Mittel über Spenden ein; den Rest machen vor allem öffentliche Gelder und Eigenleistungen aus. Die Pandemie hat ihnen diesbezüglich geholfen: 2020 machten die Spendeneinnahmen einen Satz nach oben. Für 2021 dürfte die Bilanz ebenfalls gut ausfallen, sagen Hilfswerksvertreter.
Corris beschäftigt rund 75 Festangestellte im Büro beziehungsweise Homeoffice und jährlich 1500 temporär angestellte Dialogerinnen und Dialoger. Der Zusatz jährlich ist wichtig, da der Durchlauf enorm hoch ist: Zwar gibt es einige wenige, die die Arbeit tatsächlich als Brotjob machen, die meisten aber verdienen sich bei Corris im Zwischenjahr oder in den Semesterferien etwas dazu.
Im Schnitt bleibt ein Dialoger aber keine vier Monate an Bord. Die geforderte Anzahl Spender hängt von der Auftraggeberin ab, liegt aber meist etwa bei fünf. Wer den Wert wiederholt nicht erreicht, ist den Job los. Die Kündigungsfrist beträgt zwei Tage.
«Viele geben nach ein paar Tagen von sich aus auf», sagt Corris-Geschäftsführer Baldwin Bakker beim Gespräch in den Corris-Büros in Zürich-West. «Diese Arbeit ist nicht für alle geeignet. Man muss mit Rückweisungen umgehen können und den ganzen Tag bei Wind und Wetter draussen stehen.»
Dafür komme man mit Menschen in Kontakt, arbeite für einen guten Zweck und lerne das Land kennen. Corris schickt die Dialogerinnen, die in Teams von bis zu sechs Personen arbeiten, jeden Tag mit dem Zug in eine andere Stadt. Ein Team arbeitet jeweils für mehrere Wochen im Auftrag der gleichen NPO. So lernen die Dialoger deren Inhalte kennen.
Bezahlt wird der Lohn indirekt mit Spenden
«Die Sprüche könnte ich im Schlaf aufsagen, so oft habe ich sie schon runtergerattert», sagt Sandra. Sie finanziert sich mit dem Job das Studium. Der Grundlohn pro Tag beträgt 215 Franken, dazu kommen je nach Ausbeute bis zu 150 Franken Provision. Im Durchschnitt kommen Vollzeitangestellte auf 4500 Franken im Monat, die Besten schaffen es auf 6000.
Bezahlt wird der Lohn indirekt mit Spenden. 850 Franken bezahlen die Hilfsorganisationen pro Tag und Dialogerin pauschal an Corris, grosse Kunden wie Amnesty kriegen Mengenrabatt. Neben dem Lohn übernimmt Corris dafür Rekrutierung, Ausbildung und Personalmanagement der Dialogerinnen und Dialoger oder organisiert die Standbewilligung. An Hochfrequenzstandorten wie dem Zürcher Hauptbahnhof kostet die bis zu 1000 Franken pro Tag.
«850 Franken pro Tag und und Dialoger klingt auf den ersten Blick nach viel», sagt Stefan Stolle, Marketingchef bei Helvetas. «In Wahrheit ist es ein guter Preis. Wie viele andere NPO haben wir auch schon probiert, das Fundraising selbst zu organisieren. Wir haben es nicht so gut hingekriegt wie Corris.» Ein grosses Problem sei zum Beispiel, an genug gute Leute zu kommen. Wegen des aktuellen Fachkräftemangels bekundet damit sogar Corris Mühe, trotz seiner Grössenvorteile.
Bei Amnesty ist es gleich. So sagt deren Fundraising-Chef Marcel Graf: «Die Durchführung von Standaktionen während des ganzen Jahrs ist sehr aufwendig und für eine NPO wie uns schwer umsetzbar. Daher setzen wir, auch aus Kostengründen, auf erfahrene Partnerschaften.» Diese schreibe man zwar regelmässig neu aus. Über die Jahre habe sich allerdings wiederholt bestätigt, dass das Angebot von Corris das wirtschaftlichste sei.
Bei all dem stellt sich die Frage, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, dass eine gewinnorientierte Firma wie Corris einzig dank der Gutmütigkeit der Bevölkerung Millionenumsätze macht. Den meisten, die Corris-Mitarbeiterin Sandra zum Spenden überzeugt, dürfte das nicht bewusst sein. Dass Sandra bei Corris arbeitet, ist auf der Spendenbestätigung und auf dem Dialogerinnen-Ausweis zu lesen, den sie jeweils vorzeigt.
Corris-Chef Baldwin Bakker sagt: «Ich kann auf der einen Seite nachvollziehen, dass einige Menschen unsere Arbeit nicht nur toll finden und dass wir dazu noch Geld damit verdienen.» Schliesslich spreche man die Menschen ganz direkt an, verkaufe mit Hilfsorganisationen ein sehr abstraktes Produkt und führe ihnen vor Augen, welche schrecklichen Dinge auf der Welt geschähen.«Andererseits ist die Kritik scheinheilig», sagt Bakker. «Jedes Hilfswerk-Plakat am Bahnhof, jede Fernsehwerbung und auch jeder Spendenbrief wird in der Regel von gewinnorientierten Agenturen entworfen. Das ist branchenüblich.»
Erst nach einem Jahr rechnet es sich
«Natürlich ist es in Ordnung, dass Firmen wie Corris mit ihrer Arbeit Geld verdienen», sagt auch Helvetas-Marketingchef Stolle. «Die Vorstellung, dass bei einer NPO vor allem freiwillig gearbeitet wird, ist naiv. Fundraising kostet Geld, und man kann von niemandem verlangen, dass er oder sie diesen harten Job auf der Strasse gratis macht. Wer das freiwillig macht, läuft am dritten Tag davon.»
Für Hilfswerke wie Helvetas sind Standaktionen neben analogen und digitalen Spendenbriefaktionen die wichtigste Art, an neue Spender zu kommen. Gut 5000 Personen stossen so im Jahr neu zum Spenderpool von Helvetas. Im Schnitt spenden diese jährlich knapp 200 Franken. Dafür bezahlt Helvetas rund eine Million Franken an Corris.
Damit halten sich Ausgaben und Einnahmen für Helvetas im ersten Jahr etwa die Waage. Bei anderen Hilfswerken verhält es sich ähnlich. Ab dem zweiten Jahr der Mitgliedschaft beginnt sich das Engagement für die Organisationen zu lohnen: Dann fliessen die Spendenbeiträge, ohne dass die NPO weiterhin viel Geld in die Anwerbung investieren muss. Im Schnitt bleiben Spender einer Organisation über fünf Jahre treu.
Quelle: Sonntagszeitung, 25.12.2021