Das junge Magazin «Immersion» aus Lausanne gewährt in einer starken Reportage Einblicke in den Alltag von Dialogern und F2F-Marketing auf der Strasse.
Sind Sie schon einmal morgens aufgestanden und haben sich gesagt: «Ach, heute werde ich wohl mal für eine Hilfsorganisation spenden!» Natürlich nicht. Und genau das ist der Grund, warum es uns gibt», fasst Pierre-Alain zusammen. Sie, das sind Dialoger, deren Arbeitsplatz die Strasse ist. Junge Menschen, die sich für einen guten Zweck engagieren und damit ausserdem ihre Brötchen verdienen. Ein flexibler, oft befristeter Job, der die wenigsten gleichgültig lässt. Denn das Sammeln von Spenden, ob am Bahnhof oder anderswo, ist ein Geschäft wie jedes andere, hat aber einen eher schlechten Ruf.
Dabei ist die Arbeit an sich eigentlich lobenswert. Was jedoch oft infrage gestellt wird, ist die Aufrichtigkeit der beauftragten Agenturen, ebenso wie jene der Dialoger. Die Beschaffung finanzieller Mittel für eine NGO einem gewinnorientierten Unternehmen anzuvertrauen, kann paradox erscheinen, und doch hat sich diese Art der Partnerschaft bewährt. Heutzutage gehen nur sehr wenige Organisationen das Wagnis ein, kostenträchtige Aktionen vor Ort selbst durchzuführen. Vielmehr übernehmen Imis, Wesser & Partner und vor allem Corris die Aufgabe für sie.
Mit an die 1000 Zeitarbeitern setzt die Zürcher Agentur Kampagnen für über dreissig Kunden um, darunter der WWF, Amnesty International oder Pro Infirmis, um nur einige wenige zu nennen. Eine Branche, der es ganz gut geht, wenn man Bernhard Bircher-Suits glaubt, der bei Corris für Marketing und Kommunikation verantwortlich ist. «Seit mittlerweile zehn Jahren postulieren die Medien, dass der Markt gesättigt sei. Und doch steigt das Spendenvolumen unaufhörlich weiter an. Die Statistiken zeichnen das Bild einer grosszügigen Schweiz. Mit 1,79 Milliarden Franken überstieg 2016 dabei sämtliche vorangegangenen Jahre, mit Ausnahme von 2015.»
Doch anstatt ein Spendensammelsystem zu analysieren, das seine Kritiker niemals einstimmig überzeugen wird, wollten wir herausfinden, welche Beweggründe die Helferinnen und Helfer antreibt, die sich für diese Organisationen engagieren: die Dialoger. Die, die uns auf der Strasse ansprechen, uns anlächeln und uns manchmal auch lästig werden. Handelt es sich bei ihnen wirklich einfach um Kommunikationstalente mit einer kommerziell orientierten Technik, deren einzige Motivation ihr Lohn ist? Oder um wahre Verfechter einer Idee, zu deren Fürsprecher sie sich machen?
Sie erwarten uns vor der Haupthalle des Bahnhofs, bewaffnet mit ihrer farbigen Weste und einem Stand mit dem Logo der Organisation, für die gerade geworben wird. Doch wir sind taktisch klüger und senken duckmäuserisch unseren Blick. Wir klimpern scheinbar geschäftig auf unserem Telefon und erfinden eine Ausrede, die es uns erlaubt, dieses Hindernis ungestört zu passieren, damit es unsere gewohnte Routine nicht durcheinanderbringt. «Oft werfen uns die Leute im Vorbeieilen ein ‹Mir doch egal› zu. Das darf man sich nicht zu sehr zu Herzen nehmen, denn sonst macht man den Job eine Stunde lang und gibt dann auf. Die ersten Begegnungen auf der Strasse sind immer ein wenig hart. Aber wenn das Eis erst einmal gebrochen ist, geht es besser.»
Mit seinen 35 Jahren sieht Pierre-Alain Mambré die Dinge gelassen. Denn die unzähligen vorgebrachten Ausreden kennt er aus dem Effeff. Er ist heute Assistent des Aussendienstleiters der Romandie, hat jedoch seit seinen Anfängen als Dialoger im Jahr 2009 sämtliche Stufen der Karriereleiter bei Corris durchlaufen. Ein flexibler Job, der es ihm gestattet hat, zu reisen und parallel dazu seinem Beruf als Fotograf nachzugehen. «Sein Geld zu verdienen, indem man für gute Zwecke wirbt, ist doch besser, als für eine Versicherung zu arbeiten», stellt er fest.
Wie für ihn steht für viele junge Menschen die Flexibilität der Tätigkeit im Vordergrund. Man wird Dialoger, um eine Lücke zwischen zwei Studiensemestern zu überbrücken, seine nächste Reise zu finanzieren oder sich neben seinem Beruf etwas dazuzuverdienen. Die Arbeit ist recht gut bezahlt (in Vollzeit sind über 4000 Franken pro Monat drin), aber nicht für jedermann geeignet – und Corris wählt seine Kandidaten sorgfältig aus. «Der Job erfordert viel Energie, sowohl auf körperlicher als auch auf geistiger Ebene», bestätigt Pierre-Alain. Man bekommt oft einen Spiegel vorgehalten. Der zeigt viel Ablehnung, viel Negatives, aber auch Gutes. Man lernt sich selbst besser kennen und geht viel lebendiger daraus hervor.»
Das Geld ist für die Dialoger ein wichtiger Antrieb, aber nicht der einzige. Viele junge Menschen engagieren sich, um eine besondere Sache zu unterstützen. So zum Beispiel Leila, die den Schritt im Februar 2017 gegangen ist, nachdem sie selbst auf der Strasse angesprochen worden war. Sie ist von der Mission von VIER PFOTEN, einer Organisation, die sich gegen Tierquälerei einsetzt, überzeugt, und wurde während ihres Grafikstudiums zunächst Dialogerin und später Vollzeit-Coach für die Schulung neuer Mitarbeiter. «Ich kann mir gut vorstellen, die Arbeit noch mehrere Jahre lang zu tun. Es gefällt mir, mit den Menschen auf der Strasse zu diskutieren und Aha-Erlebnisse auszulösen.»
«Heute ist sogar mein allererster Tag», lächelt Charlotte ein klein wenig gestresst. Sie profitiert von einem Sabbatjahr, um vor dem Beginn ihres Studiums etwas Geld beiseite zu legen. «Ich brauchte einen Job. Als ich erfuhr, dass man auf diesem Wege Nichtregierungsorganisationen unterstützen kann, war ich richtig happy. Ich liebe unsere Umwelt und ich liebe Tiere. Zuhause unterstützen wir den WWF.»
Céleste ist auch erst seit vier Wochen dabei. Er kommt wie viele Dialoger, die Corris in der Romandie beschäftigt, aus Frankreich und arbeitet jenseits der Grenzen seiner Heimat, um eine Reise nach Kanada zu finanzieren. «Anfangs hab ich mich schwergetan. Mein Vater ist Viehzüchter, da sind die Beziehungen zu manchen Tierschutzorganisationen nicht immer einfach. Aber hier bin ich wirklich aus Überzeugung dabei. Man trifft den ganzen Tag Leute. Das ist sehr erfüllend.»
In der Schweiz betreibt und vermietet das Unternehmen APG/SGA die für die Verkaufsförderung bestimmten Orte für die SBB. In Yverdon-les-Bains, dessen Bahnhof täglich von 15’000 Personen besucht wird, zahlt Corris 450 Franken pro Tag. Für eine Fundraising-Kampagne in Lausanne (148’000 Personen) muss man mit 690 Franken rechnen, und in Zürich mit seinen 438’000 potenziellen Kunden pro Tag werden 950 Franken erhoben. Die Dialoger müssen sich dabei an bestimmte Regeln halten; zum Beispiel ist ihr Aktionsradius beschränkt und schliesst Bahnsteige sowie stark frequentierte Bereiche aus. Ihr Tagesteam hat am Bahnhof Yverdon-les-Bains Stellung bezogen; mit dabei sind Charlotte und Céleste, zwei neue Mitarbeiter, die beide 21 Jahre alt sind.
Tatsächlich muss jeder Dialoger die von Corris festgelegten Ziele erreichen. Durchschnittlich 25 Unterschriften pro Woche werden verlangt, auch wenn die Zahl je nach Erfahrung und Bekanntheitsgrad der Organisation variieren kann. «In einem Bahnhof präsent zu sein, stellt eine Investition dar», argumentiert Pierre-Alain. «Und zwar sowohl für unser Unternehmen, als auch für die jeweilige Organisation. Daher ist der Dialoger es sich schuldig, eine gute Ethik an den Tag zu legen, um den Erwartungen zu entsprechen.» Die besten Leistungen würdigt das Unternehmen durch Bonuszahlungen nach effektivem Eingang der Spenden. «Aber wir verstehen uns auch als Team. Wenn wir um 15 Uhr schon ein ordentliches Ergebnis geschafft haben, belohnen wir uns, indem wir alle gemeinsam ins Schwimmbad gehen.»
Obwohl die Arbeitsziele bereits beim ersten Telefonkontakt vermittelt werden, ist der Druck, pro Tag fünf Lastschriftmandate erreichen zu müssen, oft genau der Aspekt, auf den die Kritiker dieses Systems mit dem Finger zeigen – ebenso wie ehemalige Dialoger, die dieser harten Aufgabe nichts abgewinnen konnten. Bei Imis, einer etwas kleineren Fundraising-Agentur, ist man nicht ganz so anspruchsvoll. Sarah, Ernesto und Steven, die wir in Genf trafen, sind angehalten, vier Unterschriften pro Tag zu sammeln. «Aber wie jedes andere Unternehmen muss auch dieses sich rechnen», vertraut Steven uns an. «Viele Menschen kritisieren dieses System. Doch es ist und bleibt ein Job», fügt Ernesto hinzu. «Ich kann
nachvollziehen, dass ein Soll erfüllt werden muss, denn es kann natürlich nicht sein, dass man der Organisation mehr Kosten verursacht als Gewinn einbringt.»
Trotzdem kann sich keiner der drei vorstellen, für Corris zu arbeiten. Sie ziehen es vor, sich für eine gute Sache in kleineren Strukturen einzusetzen. «Corris ist ein richtig grosser Laden. Deshalb muss man den Vorgesetzten gegenüber Rechenschaft ablegen. Bei Imis herrscht eine ganz andere Dynamik», erzählt uns Sarah, die weiss, wovon sie spricht, da sie für beide Unternehmen gearbeitet hat. Nichtsdestotrotz ist allen Dialogern daran gelegen, das Image ihrer Tätigkeit aufzuwerten. «Denn auf der Strasse ist es die Regel, dass die Menschen hochmütig über einen hinwegsehen», beklagt Ernesto. «Manchmal trifft man die grosse Ausnahme. Aber meistens schauen uns die Menschen nicht einmal an. Wenn ich 20 Mal ‹Guten Tag› sage, bekomme ich vielleicht fünf Mal Antwort.» Ernesto war auch schon für die Agentur Wesser tätig, die auf das Fundraising von Tür zu Tür spezialisiert ist, und unterstützt persönlich Pro Natura und den Verein Patouche, für die er an seinem Stand wirbt. «Denn wenn man jemanden um eine Spende bittet, muss man selbst von der Sache überzeugt sein.»
Empfinden sie manchmal Scham dabei, auf Kundenfang zu gehen und auf der Strasse um Geld zu betteln? «Nie, denn ich mache den Leuten ja kein schlechtes Gewissen», antwortet Ernesto, ohne zu zögern. «Aber ich weiss, dass einige Dialoger unlautere Techniken anwenden. Es ist mir selbst schon passiert, dass ich auf der Strasse angesprochen wurde und man versucht hat, mir weiszumachen, dass der Mindestbetrag für eine Spende 120 Franken beträgt, obwohl es 80 Franken sind – nur, um ein besseres Ergebnis zu erzielen. Dem Typen hab ich meine Unterschrift natürlich nicht gegeben.» Das sind von Corris wie auch Immis klar verbotene Methoden, die für Gegner der Fundraising-Methode oft ein willkommenes Argument sind – denn sie vertreten die Ansicht, dass die Welt der Wohltätigkeit kein Markt wie jeder andere werden, sondern Freiwilligen vorbehalten sein sollte, die die Sache der NGOs mit Herz und Seele unterstützen. MF, 23.3.2018