NZZ-Redaktor Dominik Feldges schreibt in seinem Artikel über «Bettelbriefe» und die Schmerzgrenze mancher Schweizer.
Das Januarloch trifft auch Hilfswerke mit voller Härte. Nur wenige Schweizer verspüren kurz nach dem Jahreswechsel Lust zum Spenden. Im Dezember war dies noch ganz anders. Die Spendebereitschaft ist vor Weihnachten in der Schweiz traditionell besonders hoch. Unzählige Hilfswerke machen sich dies zunutze und weisen vor allem mit Aussendungen auf ihre Arbeit hin. «Im Januar die Schweizer um Spenden anzugehen, ist dagegen verlorene Liebesmüh», sagt ein Brancheninsider.
Harter Wettbewerb
Lange wird es gleichwohl nicht gehen, bis die nächsten Bettelbriefe mit Einzahlungsschein in die Haushalte flattern. Der Bettelbrief ist mit Abstand das wichtigste Instrument, mit dem Hilfswerke Spenden beschaffen. Rund drei Viertel der Zuwendungen von Privatpersonen erfolgen auf diesem Weg. Wie stark Hilfswerke auf Bettelbriefe setzen, weiss jeder, der schon einmal auf einen solchen Aufruf reagiert hat. Die meisten Organisationen schreiben Gönner selbst nach einer kleinen erstmaligen Spende immer wieder an.
In der Schweiz hat sich das Volumen privater Spendengelder innerhalb von zehn Jahren um zwei Drittel auf rund 1,8 Mrd. Fr. erhöht. Trotz diesem eindrücklichen Wachstum, das sich Branchenvertreter vor allem mit dem starken Bevölkerungswachstum und einer steigenden Professionalisierung in der Geldbeschaffung durch Hilfswerke erklären, ist der Wettbewerb härter geworden. Eine grosse Herausforderung ist die schiere Zahl von Hilfsorganisationen. Die Stiftung mit dem sperrigen Namen Schweizerische Zertifizierungsstelle für gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen (besser bekannt unter dem Kürzel Zewo), über die sich die Hilfswerke selber regulieren, hat über 500 Institutionen ihr Gütesiegel verliehen.
Vermehrt versuchen auch Organisationen aus dem Ausland, die nicht von der Zewo zertifiziert worden sind, sich ein Stück vom Schweizer Spendenkuchen zu sichern. Dass die Schweizer überdurchschnittlich kaufkräftig sind und ihren Reichtum gerne mit weniger Bedürftigen teilen, hat sich international herumgesprochen. Vier von fünf Schweizer Haushalten spenden, wobei der Durchschnittsbetrag pro Jahr bei rund 300 Fr. liegt. In Deutschland können gemeinnützige Organisationen nur auf die Unterstützung von ungefähr jedem dritten Haushalt zählen.
Ein effizientes Instrument
Der Verband Swissfundraising, dessen Mitglieder sich beruflich mit dem Thema der Geldbeschaffung für Hilfswerke beschäftigen, verwendet ungern den Begriff Bettelbrief. Lieber spricht er von Direct-Mailing-Aktionen. Obschon er laut eigenen Angaben von keiner Statistik der Gesamtzahl jährlich verschickter Bettelbriefe Kenntnis hat, macht er kein Geheimnis daraus, wie effizient diese Art der Geldbeschaffung ist. In der Schweiz antworteten bis zu 10% der Angeschriebenen mit einer Spende. In Deutschland könne man froh sein, wenn die Resonanz 2 bis 3% erreiche, sagt Geschäftsführer Roger Tinner.
Ausser mit Bettelbriefen versuchen Schweizer Hilfswerke auch durch Standaktionen auf öffentlichen Plätzen Spender zu gewinnen. Sie hoffen, auf diesem Weg vor allem an Leute heranzukommen, deren Adressen noch nicht in ihrer Datenbank gespeichert sind. Gut eingespielt hat sich nach Auffassung von Swissfundraising die Zusammenarbeit mit spezialisierten Firmen wie Corris. Das Zürcher Unternehmen akquiriert seit einigen Jahren im Auftrag einer Reihe von Hilfswerken Spender. Dass seine zumeist jungen Mitarbeiter mit ihrem offensiven Auftreten den einen oder anderen Passanten verärgern, hält Tinner für vertretbar. Wer auf einen wichtigen Zweck aufmerksam machen wolle, müsse auch einmal nerven. «Angestellte von Warenhäusern, die Ladenbesuchern Gutscheine in die Hand drücken, verhalten sich auch nicht anders.»
Noch kaum Erfolg im Internet
Eine Daumenregel besagt, dass in der Schweiz für jeden gespendeten Franken 20 Rp. an Kosten in Kauf genommen werden müssen. Rund 12 Rp. der Aufwendungen entfallen auf die allgemeine Verwaltung und 8 auf das Fundraising. Deutlich kostengünstiger ist Akquisition von Spenden via Internet, weil keine Papier- und Druckkosten sowie Portospesen anfallen. Dennoch haben Hilfswerke noch kaum eine erfolgreiche Online-Strategie entwickelt. Lediglich rund 2% aller Spenden in der Schweiz haben ihren Ursprung im Internet.
In Kreisen von Schweizer Hilfsorganisationen tröstet man sich damit, dass junge Schweizer, die mit der digitalen Welt wie keine Generation vor ihnen vertraut sind, die spendenfreudigen Jahrgänge erst noch erreichen. Personen über 34 Jahre sind nicht nur anteilsmässig eher bereit, gemeinnützigen Institutionen Geld zukommen zu lassen. Sie setzen im Durchschnitt auch deutlich grössere Beträge pro Jahr ein als jüngere Erwachsene.
Beim Berufsverband Swissfundraising, dessen Mitgliederzahl im Zuge der Professionalisierung der Geldbeschaffung markant gestiegen ist (seit 2007 von knapp 400 auf über 700), ist man überzeugt, dass angesichts des verbreiteten Wohlstands in der Schweiz noch höhere Spendengelder abgerufen werden können. Allerdings ist das Gesamtvolumen in den letzten paar Jahren kaum noch gestiegen. Die Hilfswerke werden sich im Fundraising neue Wege überlegen müssen. Mit Bettelbriefen allein, die in hoher Kadenz an die immer selben Leute versandt werden, ist es nicht getan.
Quelle: NZZ/Autor: Dominik Feldges, 11.01.2018