Ein Artikel im deutschen Fundraiser-Magazin 3/2017 beleuchtet eine Corris-Infostand-Kampagne für Amnesty International Schweiz.
Der Krieg in Syrien dauert an. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr laufen wir Gefahr, uns an diese Krise zu gewöhnen oder sie im Extremfall gar zu vergessen. Um das Problem im Bewusstsein zu halten, hat Amnesty International gemeinsam mit der Schweizer Fundraising-Agentur Corris einen Informationsstand der besonderen Art entwickelt. Und das Rote Kreuz Norwegen konnte die Syrien-Problematik sogar in einem Möbelhaus erfahrbar machen.
Was kümmern mich humanitäre Krisen, wenn ich nicht selbst unmittelbar betroffen bin? So unrühmlich diese Haltung auch sein mag, ist sie doch psychologisch vollkommen normal und nachvollziehbar. Und wer ist schon in der Lage, die Komplexität globaler Konflikte zu überblicken? Erschwerend kommt hinzu, dass ein andauerndes Problem irgendwann als «Normalzustand» wahrgenommen werden kann, begleitet von resignierendem Achselzucken: «Was kann ich schon dagegen tun?» Nur ändert ja eben eine ignorante Haltung gerade nichts an den bestehenden Problemen. Um genau dagegen anzukämpfen, hat sich Amnesty International bereits vor geraumer Zeit den so griffigen wie wirksamen Slogan «Es passiert nicht hier, aber jetzt» auf die Fahnen geschrieben und sorgt seit März dafür, dass «es», konkret der Bürgerkrieg in Syrien, «hier», nämlich in der Schweiz «passiert».
In Zusammenarbeit mit der Schweizer Fundraising-Agentur Corris hat die Menschenrechtsorganisation einen Informationsstand der besonderen Art entwickelt. Zum einen fällt dieser bereits durch seine Grösse ins Auge. Das allein reicht aber natürlich nicht, um Passanten in der Öffentlichkeit zu erreichen. Dafür braucht es etwas Besonderes. Und diese Besonderheit besteht hier in einem Wohnzimmer. Als solches ist der Stand nämlich gestaltet, der bislang unter anderem in Zürich und Aarau aufgebaut worden ist. Dabei prangt natürlich nicht die Schrankwand in Eiche rustikal in der Ecke, sondern die wenigen Möbel inklusive Bilderrahmen, einem Teddybären und einem Orangenbäumchen als Zierpflanze repräsentieren ein syrisches Heim. «Heimelig» ist durchaus ein Begriff, den man dafür verwenden kann. Allerdings nur so lange, bis man durch das Fenster in der Wand «nach draussen» schaut. Was man da sehen kann, ist ein verwüsteter Stadtteil von Aleppo. Das allein verfehlt schon seine Wirkung nicht. Nur handelt es sich bei dieser Ansicht um kein Foto. Das «Fenster nach Syrien» ist digital: Auf Knopfdruck läuft vor dem Fenster ein Film ab, in dem eine Fassbombe lautstark explodiert. Direkt vor dem Fenster. Unmittelbarer geht es wohl kaum.
Alexandra Karle, Leiterin Kommunikation und Menschenrechtspolitik bei Amnesty International Schweiz, sagt: «Unsere Kampagne soll den Menschen in der Schweiz die Schrecken des Krieges in Syrien verdeutlichen. Das ist anhand des nachgebauten syrischen Wohnzimmers möglich. Nicht hier, aber jetzt explodieren Fassbomben in Wohngebieten, zerstören Häuser, Spitäler, Schulen und töten Frauen, Männer und Kinder. Deshalb setzt sich Amnesty International für die Achtung des humanitären Völkerrechts ein und für den Schutz von Menschen auf der Flucht. Dieser Krieg muss aufhören, und die Verantwortlichen von Kriegsverbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»
25 Quadratmeter Syrien
Mit einem ähnlichen Überraschungs-Effekt konnte das Rote Kreuz Norwegen vergangenen Oktober mit seiner jährlichen Spendenaktion punkten. In einer Ikea-Fililale in der Nähe von Oslo fand sich ein ganz besonderer Wohnraum. «25 m2 Syria» präsentierte nackte Wände aus Betonziegeln, die eine spartanisch eingerichtete Wohnstätte bilden, deren tatsächliches Vorbild in der Nähe von Damaskus steht. Auf diesen 25 Quadratmetern lebt eine zehnköpfige Familie. Die Unmittelbarkeit der Wirkung entstand dabei natürlich in erster Linie durch den starken Kontrast zu den üblichen gemütlichen Raumkonzepten des Möbelhauses. Die Agentur POL ist mit ihrem Konzept aber noch weiter gegangen. Auf den bekannten Ikea-Preisschildern fanden sich die Geschichten von Flüchtlingen.
Den beiden Projekten ist die Inszenierung eines Fremdkörpers gemeinsam. Das Unerwartete der unmittelbaren Räumlichkeit an einem Ort, der so gar nicht zu passen scheint, konfrontiert die Menschen damit auch in einem Moment, in dem niemand darauf gefasst ist. Möglicherweise könnte man das im negativen Sinn als Überrumpelungstaktik bezeichnen. Ihr Wirkung verfehlen die beiden Konzepte aber keineswegs.
Dieser Artikel von Rico Stehfest ist im Fundraiser-Magazin 3/2017 erschienen. Der Text ist im Original als PDF-Datei abrufbar.