Die Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» beleuchtet die Arbeit von Fundraising-Agenturen wie Corris. Der folgende Text ist eine Übersetzung des französischen Artikels.
«Kann ich Sie kurz etwas fragen?» – So werden Sie am Bahnhof oder in der Fussgängerzone mit einem freundlichen Lächeln angesprochen. Die Dialoger haben an diesen Orten mit starkem Passantenverkehr ihr Quartier aufgeschlagen. Tierschutz, Umweltschutz oder Menschenrechte: Alle möglichen guten Zwecke appellieren an den Geldbeutel der Passanten in einem zunehmend übersättigten öffentlichen Raum. Das Spendensammeln – über die Rekrutierung neuer Mitglieder – ist heutzutage fast ausschliesslich die Domäne von kommerziellen Unternehmen wie Corris, i.m.i.s. und Wesser (wobei das letztere auf die Tür-zu-Tür-Sammlung spezialisiert ist).
Das auf die Spendensammlung in den Schweizer Strassen spezialisierte Unternehmen Corris hat nach wie vor den höchsten Bekanntheitsgrad. Es ist für rund dreissig nichtstaatliche Organisationen (NGOs) tätig, darunter Amnesty International, Pro Juventute und Swissaid. Corris berechnet bis zu 850 Franken pro Tag für einen seiner rund tausend «Dialoger», die das Unternehmen jährlich in der gesamten Schweiz beschäftigt. Corris bekommt jedoch immer mehr Konkurrenz. ONG Conseil, ein in Frankreich, Kanada und Belgien tätiger Fundraising-Riese, ist seit 2011 in Genf tätig und erweitert seinen Tätigkeitsbereich derzeit auf Lausanne, Morges und Yverdon. Kostenpunkt für die ONGs bei ONG Conseil? 117 Franken pro Stunde für das Spendensammeln.
Martina Ziegerer, die Geschäftsführerin von Zewo, einer Organisation, die ein Qualitätssiegel für Wohltätigkeitsorganisationen vergibt, erklärt: «Die Schweiz ist ein bedeutender Markt für Spendensammlungen. Ca. 70 % der erwachsenen Bevölkerung machen Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen. Im Jahr 2013 haben die Schweizer mehr als 1.72 Milliarden Franken gespendet.» Einer Erhebung von Zewo zufolge kostet ein gespendeter Franken diese Organisationen im Durchschnitt 21.2 Rappen. Sie verwenden durchschnittlich 8 Prozent ihrer Ausgaben für die Spendensammlung. Der Markt lässt sich jedoch nicht endlos ausdehnen. Yann Nasel, der Leiter von Corris für die Westschweiz, stimmt zu: «Es wird für die NGOs immer schwieriger, Spender zu finden. Der Kuchen wird nicht grösser. In Europa sind drei oder vier Länder für Spendensammler ergiebig, darunter die Schweiz. Deshalb ist das Fundraising hier so professionell geworden.»
Der WWF arbeitet seit dreizehn Jahren mit Corris zusammen. Jedes Jahr werden 1’000 Kampagnentage mit ca. 850’000 Franken in Rechnung gestellt. WWF-Sprecherin Pierrette Rey nennt die Gründe für die Zusammenarbeit: «Es war dem WWF nicht möglich, Mitarbeiter nur zum Spendensammeln auf der Strasse einzustellen. Die Zusammenarbeit mit einem externen Unternehmen ermöglicht es uns, ein genaueres und stabileres Budget aufzustellen. Diese neuen Mitglieder sind darüber hinaus treuer, da sie im Durchschnitt sechs Jahre lang bleiben.» Der WWF verzeichnet jährlich bis zu 6‘000 neue Mitglieder. Pro Natura verbucht ihrerseits bis zu 12 000 neue Mitglieder pro Jahr, sie arbeitet jedoch mit mehreren Organisationen zusammen. Wesser geht von Haus zu Haus, i.m.i.s. betreibt Stände auf der Strasse und Corris übernimmt die Betreuung der Spender. «Wir geben zwischen 1.4 und 2.16 Millionen Franken für die Werbung neuer Mitglieder aus», erklärt der Sprecher der Organisation Nicolas Wüthrich. «Das ist viel Geld. Man muss diese Zahl jedoch zu unserem Budget von 22 Millionen Franken in Relation setzen. Die Organisation benötigt die Mitgliedsbeiträge aus fast zwei Jahren, um die Kosten einer Kampagne zu decken. Wir würden es nicht tun, wenn die neuen Mitglieder nicht länger bleiben würden.»
Greenpeace hat die Zusammenarbeit mit Corris im Bereich Infostandkampagnen im Jahr 2009 eingestellt und beschäftigt seitdem eigene «Dialoger». «Wir haben als eine der letzten Niederlassungen der Organisation das Fundraising ausgelagert», erklärt der Sprecher Mathias Schlegel. «Der Aufbau unseres eigenen Systems ist vor allem in Bezug auf die Identifizierung und die Klarheit der Botschaft von Vorteil.» Yann Nasel glaubt jedoch weiterhin an das Modell von Corris: «Man wirft uns manchmal vor, dass wir zu einem internationalen Fundraising-Konzern geworden sind. Aber wenn sie diese Tätigkeit nicht auslagern, übernehmen die meisten NGOs unser System. Manche ihrer Dialoger sind darüber hinaus ehemalige Mitarbeiter von Corris und umgekehrt.» Die Folge: Wir sehen immer mehr Fundraising-Stände in den Strassen und die Passanten werden immer häufiger angesprochen. Batoulim Sébabé, Geschäftsführer der NGO Conseil pour la Suisse, ist das Problem nicht fremd: «Wir versuchen, eine Übersättigung der Sammelstandorte zu vermeiden, indem wir die Wahrnehmung der Passanten und die Anzahl der Unterschriften pro Tag im Auge behalten.» Corris sieht eine Übersättigung des Marktes: «Die Anzahl neuer Spender ist rückläufig, aber die Beträge steigen tendenziell», erklärt Yann Nasel. «Wir richten unser Augenmerk verstärkt auf die Qualität der Spender. Es ist wichtig, dass neue Mitglieder von der Botschaft der NGO und von ihrer Tätigkeit überzeugt sind, damit sie länger dabei bleiben. Um diesen Beruf langfristig auszuüben, muss man auf jeden Fall echte humanitäre Überzeugungen haben.» Wir haben Wesser und i.m.i.s. kontaktiert, jedoch keine Antwort erhalten. Keine der Organisationen veröffentlicht ihre Ergebnisse. Autor. Adrià Budry Carbó/Le Temps, 25. Juni 2015
Den Original-„Le Temps“-Artikel in Französisch finden Sie hier.