Der NZZ-Journalist Robin Schwarzenbach begleitete unsere Dialoger im Dezember 2012 in Bern und Winterthur bei Ihrer Arbeit. Daraus entstand folgender Artikel.
Aktionen in Fussgängerzonen sind für die Mittelbeschaffung von Non-Profit-Organisationen von zentraler Bedeutung. Fundraising-Agenturen haben das Werben um neue Spender längst zu einem Geschäft gemacht.
Über der Marktgasse in Winterthur liegt ein Hauch von Weihnachtsstimmung. Dichter Schneefall, die Lichterketten über der Fussgängerzone warten auf die Dämmerung, die Passanten schreiten zügig voran. Es ist ein kalter Dezembertag. Davide, Anna, Dominique und Florine haben es nicht leicht, die Aufmerksamkeit der Vorbeigehenden auf sich zu ziehen. «Guten Tag, die Dame, haben Sie eine Minute?» – «Hallo, darf ich dich etwas fragen?» – «Grüezi . . .?» Die meisten der Angesprochenen zeigen ihnen und dem kleinen Infostand die kalte Schulter. Ablehnung gehört zum Alltag der Spendensammler dazu, auch im Advent.
Geschickt argumentiert
Für die Hilfswerke sind die letzten Wochen des Jahres eine entscheidende Zeit. Die Schweizerische Zertifizierungsstelle für gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen (Zewo) geht davon aus, dass im November und Dezember bis zu ein Drittel der Spenden eines ganzen Jahres eingehen. Experten wie Georg von Schnurbein vom Centre for Philanthropy Studies der Universität Basel beobachten gar einen Gegentrend zur Konsumgesellschaft: Anstatt zu schenken, entscheide man sich zu Weihnachten vermehrt für eine Gabe für einen guten Zweck.
In Winterthur ist davon indes wenig zu spüren. Nach drei Stunden haben die erwähnten vier sechs neue Spender vorzuweisen. Davide, der Teamleiter, geht trotzdem engagiert zu Werke. Er und seine Kolleginnen stehen für den Gehörlosenbund im Einsatz. Der 21-Jährige argumentiert geschickt. Passanten, die stehen bleiben, werden zunächst über die Situation der Hörgeschädigten in der Schweiz und über die Anliegen des Hilfswerks informiert. So stehen 10 000 Gehörlosen nur 90 Dolmetscher zur Verfügung. Der Gehörlosenbund will hörgeschädigten Personen einen höheren Schulabschluss und ein Studium ermöglichen. «In den USA funktioniert das bereits sehr gut, bei uns leider noch nicht», erläutert Davide, der früher im Verkauf gearbeitet hat. Und: «Wir sind hier, um weitere Mitglieder zu gewinnen.» So werde die Organisation gestärkt.
Doch natürlich geht es auch und vor allem um Geld. Der Gehörlosenbund finanziert sich zu zwei Dritteln über Spenden, der Rest stammt von der öffentlichen Hand. Auch das erfahren die Gesprächspartner von Davide und seinem Team. Eine junge Frau ist nicht abgeneigt. Ein Formular ausfüllen will sie jedoch nicht. «Kann man auch übers Internet spenden?» – «Ja», antwortet Davide, «aber das wäre ein Mehraufwand; für dich und für uns.» Es werden auch keine Broschüren verteilt, die man mit nach Hause nehmen könnte.
Es zählt der Moment
Die Aufgabe der sogenannten Dialoger ist klar: Passanten sollen sur place dazu gebracht werden, ein Lastschriftverfahren zu unterzeichnen. Sofern sie nicht von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch machen, können neue Fördermitglieder auf diese Weise langfristig gebunden werden. Einmalige Beträge dagegen sind für Hilfswerke nur bedingt attraktiv. Darüber hinaus führen Informationen über konkrete Ziele von Non-Profit-Organisationen (NPO) idealerweise zu einem Impuls, den es sofort umzusetzen gilt. Es zählt der Moment. Denn bei grundsätzlich interessierten Personen dürfte die Wirkung eines persönlichen Gesprächs auf der Strasse nach ein paar Stunden wieder verflogen sein. Zu Hause angekommen, werden sich wohl die wenigsten an die Begegnung erinnern und sich die Mühe machen, tatsächlich etwas zu spenden.
Keine Freiwilligenarbeit
Der Übergang von der Botschaft einer Hilfsorganisation zur Frage, ob man dieses Engagement finanziell unterstützen möchte, ist nicht jedermanns Sache. Baldwin Bakker sagt: «Daran scheitern viele, die freiwillig Spenden sammeln.» Er ist der oberste Chef der vier Dialoger in Winterthur. Allerdings gehören weder er noch seine wetterfesten Mitarbeitenden zum Gehörlosenbund. Bakker ist vielmehr CEO der Corris AG in Zürich, einer Agentur für Spendenmarketing, die auf Standaktionen von Non-Profit-Organisationen spezialisiert ist. Hier hat sich das Unternehmen nach eigenen Angaben eine führende Position erarbeitet in der Schweiz.
Die Firma beschäftigt rund tausend Dialoger im Jahr. Fast alle arbeiten Teilzeit, die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, für viele ist es ein Gelegenheitsjob für ein paar Wochen. Die Fluktuation ist hoch. Für Inhalt und Erscheinungsbild einer Fundraising-Kampagne sind die Non-Profit-Organisationen verantwortlich. Die Spendensammler der Agentur werden von den Hilfswerken geschult, dies jeweils im Umfang von zwei bis drei Stunden.
Ein gewinnorientiertes Unternehmen, das gemeinnützige Anliegen kommuniziert und dafür gezielt auf Spenden aus ist im öffentlichen Raum? Für Bakker ist das kein Widerspruch. «Ich glaube, dass der Spender vor allem will, dass sein Geld effizient zum Ziel gelangt», sagt der CEO. Fundraising im Auftrag von Non-Profit-Organisationen durchzuführen, sei ein Konstrukt, das für alle Seiten funktioniere. Gut zu wissen ist auf jeden Fall, dass seriöse Anbieter solcher Dienstleistungen aus der Substanz der Hilfswerke bezahlt werden. Spenden, die von Corris auf der Strasse akquiriert werden, gehen laut Baldwin Bakker zu hundert Prozent an den Auftraggeber.
Ausgelagert . . .
Der Schweizer Spendenmarkt ist hart umkämpft. Mit gutem Grund: Den Organisationen mit dem Zewo-Gütesiegel kamen letztes Jahr über eine Milliarde Franken zugute. Das Volumen der Einzelspenden von Privatpersonen ging zurück, steuerte aber weiterhin den grössten Anteil bei. Den stärksten Zuwachs verzeichneten die Mitgliederbeiträge, jene Kategorie also, die gerade auf der Strasse beworben wird. Diese Spenden beliefen sich auf knapp 200 Millionen Franken.
Gleichzeitig setzen immer mehr Hilfswerke auf Standaktionen. Das wiederum drückt auf die Einnahmen der einzelnen Non-Profit-Organisationen. Vor einigen Jahren habe man noch von sieben bis acht Abschlüssen pro Dialoger und Tag ausgehen können, sagt Tom Hofer, Chef Fundraising beim Gehörlosenbund. Heute seien fünf neue Spender bereits ein guter Wert. Hofer ist auch nicht verlegen, als ihn der Reporter auf die Kosten der Zusammenarbeit mit einer Fundraising-Agentur anspricht. «Infostände sind relativ teuer, da muss ich Ihnen recht geben.» Der Gehörlosenbund setzt seit 2003 auf dieses Mittel. Würde das Hilfswerk heute damit beginnen, wäre der Break-even nach Einschätzung Hofers erst nach drei Jahren erreicht. Rekrutierung, Schulung, Planung und Betreuung – der Aufwand für eine professionelle Kampagne ist beträchtlich.
Der Fundraising-Verantwortliche hält trotzdem grosse Stücke auf solche Auftritte. Es sei die effizienteste Methode überhaupt, um Fördermitglieder zu werben. Kontaktaufnahme in Fussgängerzonen funktioniere am ehesten zwischen Vertretern der jungen Generation. Und wer einmal etwas gegeben habe, der bleibe sich dieser Verantwortung vielleicht über Jahre bewusst. Hofer ist zudem überzeugt, dass ein eigenes Team für diese Arbeiten noch teurer käme. Mit dieser Haltung steht der Gehörlosenbund bei weitem nicht alleine da. Auch Helvetas, Pro Juventute, Amnesty International und andere gemeinnützige Organisationen vertrauen bei Strassenkampagnen auf die Dienste von externen Anbietern.
. . . oder mit eigenen Leuten?
Für die Spendensammler, die in Winterthur den ganzen Tag im Schneetreiben ausharren müssen, scheint der Deal ebenfalls aufzugehen. Sie erhalten für ihre Einsätze eine Tagespauschale. Bei Corris entspricht ein Vollzeitpensum einem fixen Einkommen von 4000 Franken im Monat. 15 Prozent des Gehalts sind abhängig vom eigenen Erfolg. Davide hat jüngst in einer Woche einen Umsatz von 7500 Franken erwirtschaftet. Der Teamleiter wurde zum «Wochensieger» gekürt. Dialoger, die mit langen Durststrecken zu kämpfen haben, werden zur Tür gebeten oder gehen freiwillig.
Harte Fakten spielen auch bei Greenpeace eine Rolle. Der Winter hat auch die Bundesstadt im Griff, den Spendensammlern der Umweltorganisation auf dem Berner Bahnhofplatz stehen einige ungemütliche Stunden bevor. Anders als die meisten Hilfswerke setzen die Naturschützer dabei jedoch bewusst auf eigene Leute. Diese verdienen ungefähr gleich viel wie die Dialoger einer Agentur. Die Kosten eines internen Teams seien indes geringer, sagt Marc Birbaum, der Fundraising-Direktor. Bis vor vier Jahren hatte die NPO ihre Strassenaktionen ebenfalls ausgelagert.
Beim Entscheid, dies nicht mehr zu tun, profitierte Greenpeace Schweiz von den Erfahrungen, die der internationale Verbund in anderen Ländern gemacht hatte. Mit eigenen Angestellten entstehen neue Synergien. Die Dialoger sind näher dran an der Organisation, und sie können auch zum Unterschriftensammeln eingesetzt werden. Wer will, kann sich beim Trupp in Bern für die Stromeffizienzinitiative eintragen. Nicht zuletzt aber will die Umweltschutzorganisation authentisch sein. Alle Mitarbeitenden sollen sich mit Greenpeace identifizieren. «Dadurch werden wir besser vertreten», betont Birbaum.
Allein, ob über eine Agentur oder auf eigene Faust: Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Aktionen in Winterthur und in Bern ist kaum auszumachen. Auch die Spendensammler in Winterthur treten durchaus überzeugend auf – wenngleich die Passanten an beiden Schauplätzen wahrscheinlich davon ausgehen, dass sie direkt von einer gemeinnützigen Organisation angesprochen werden.
Dieser Artikel von Robin Schwarzenbach erschien am 24.12.2012 in der NZZ.